Ich bemerke ein seltsames Phänomen.
Naja, eigentlich bemerke ich tagtäglich seltsame Phänomene. Zum Beispiel das, dass es offenbar ausser Mode gerät, normal zu telefonieren. Das heisst, mit dem Telefon am Ohr. Ich sehe nur noch Leute, die das Telefon vertikal vors Gesicht halten und den Gesprächspartner auf dem Lautsprecher haben. Oder ihn über einen Kopfhörer hören, wenn es sich nicht um völlige Neandertaler handelt.
Ich frage mich, was das soll. Ich verstehe es, wenn es sich um Videotelefonierer handelt: Zum Beispiel um Touristen, die via Kamera zeigen wollen, wo sie gerade sind. Klar, in dem Fall will man nicht unbedingt per Skype, WhatsApp oder Facetime eine Ansicht seiner Ohrmuschel übertragen. Aber bei normalen Telefongesprächen ohne Video halte ich das für einigermassen albern.
Hat man einen Kopfhörer, dann kann man das Telefon auch in die Jackentasche stecken. Und wenn man keinen Kopfhörer hat, dann könnte man sich überlegen, ob man wirklich die ganze Umgebung mit beiden Seiten des Gesprächs belästigen will. Wenn man das Telefon am Ohr hat, hören die Umstehenden wenigstens nur die Hälfte dieser Konversation, die sie mutmasslich nicht im geringsten interessiert.
Aber jetzt zum Thema!
Soweit dieses Phänomen, um das es hier aber gar nicht gehen soll. Das Phänomen, das ich meine, nennt sich Google-Analytics-Hörigkeit. Für Leute, die nicht wissen, was Sache ist: Google Analytics ist eine Webstatistik, die vom gleichnamigen Suchmaschinenkonzern angeboten wird und über Javascript-Codes in beliebige Websites eingebunden werden kann. Die ganze Sache ist gratis, zumindest bei oberflächlicher Betrachtungsweise. Schaut man genauer hin, fällt auf, dass man den Dienst relativ teuer bezahlt, nämlich indem man Google alles über die eigene Website herausfinden lässt, was Google über die eigene Website herausfinden möchte.
Schon da wäre eigentlich ein guter Moment, um einmal darüber nachzudenken, ob es wirklich so eine gute Sache ist, das zu tun. Denn Google kennt unzählige Websites im Netz genauso gut. Wenn Wissen Macht ist, dann machen die Google-Analytics-Nutzer den Konzern auf diese Weise übermächtig.
Medienunternehmen liefern dem Konkurrenten intime Daten
Gerade bei Medienunternehmen muss ich mich sehr wundern: Die jammern (nicht zu Unrecht) darüber, wie ihnen Google im Werbemarkt das Wasser abgräbt. Aber gleichzeitig verwenden sehr viele News-Websites Google Analytics, und verraten auf diese Weise dem Konkurrenten alles, was er über das eigene Werbegeschäft wissen muss. Scheint mir nicht durchdacht.
Das allein rechtfertigt die Forderung im Titel, nämlich den Verzicht auf Google Analytics. Doch ich habe einen konkreten Anlass, weswegen ich gerade heute diese Empfehlung mache. Mir sind in letzter Zeit nämlich diverse Leute untergekommen, die ausschliesslich durch die Google-Brille auf die eigene Website schauen. Es kann sogar sein, dass sie weitreichende Entscheide aufgrund dieser Daten treffen. Und zwar, ohne diese Daten zu hinterfragen und kritisch zu würdigen. Dabei wäre das dringend angebracht. Ich halte die Datenqualität bei Google Analytics für nicht sehr gut.
Angewandte Google-Skepsis
Es ist, zugegebenermassen, mehr ein Bauchgefühl als eine belastbare These. Das liegt daran, dass ich keine Daten zu dieser Website hier habe – die ich so gut kenne, dass ich eine Statistik dazu auch beurteilen kann. Ich hatte Google Analytics seinerzeit einmal kurz hier im Blog laufen. Ich habe den Dienst wieder heruntergenommen, und zwar aus Gründen angewandter Google-Skepsis: Ich halte es für legitim, wenn ich als Webseiten-Betreiber Daten über meine Nutzer sammle, die mir gewisse Einsichten über das Nutzungsverhalten ermöglichen. Ich halte es aber nicht für angebracht, diese Daten mit anderen zu teilen. Und ja, ich schliesse von mir auf andere: Ich schätze es nämlich nicht, wenn andere Webseitenbetreiber das tun. Man müsste die Nutzer zumindest darüber aufklären – aber noch nicht einmal das passiert.
Also zurück zur Datenqualität. Ich habe zwar nicht extrem ausführlich gesucht, aber keine richtig guten Analysen von Google Analytics gefunden. Es gibt aber zwei Gründe, die ich zu bedenken gebe: Erstens gibt es einen relativ grossen Anteil von Leuten, die nicht erfasst werden. Man kann Google Analytics mit diversen Mitteln blockieren. Es gibt Browser-Add-ons zur Deaktivierung von Google Analytics von Google selbst, aber auch allerhand andere Mittel gegen das Tracking, wie der Beitrag Tracker von der Schiene werfen erklärt. Bei den Werbeblockern beträgt der Anteil weltweit um 30 Prozent.
Google Analytics wird oft blockiert
Klar: Google Analytics ist nicht gleich Werbung. Aber es ist doch so, dass viele Werbeblocker auch das Tracking unterbinden. Er hier hat im Beitrag How many users block google analytics? durch einen Vergleich mit den Server-Logs herausgefunden, dass etwa 45 Prozent seiner Nutzer von Google Analytics nicht erfasst werden. Das würde etwa zu meinen Erfahrungen passen, wenn ich sehe, wie viele Aufrufe mir die (rudimentärere) Google AdSense-Statistik ausweist – verglichen mit den Views, die mein CMS zählt. (Die wiederum könnten durch Bots oder ähnliche Dinge künstlich in die Höhe getrieben werden.)
Trotzdem: 45 Prozent, die nicht erfasst werden? Selbst wenn es «nur» 30 oder 20 Prozent wären, macht das die Statistik komplett unbrauchbar. Und es kommt ein weiteres Problem dazu: Google Analytics kennt die Eigenheiten einer Website nicht. Nur ein Beispiel: Bei vielen Content-Management-Systemen taucht in der Adresse zu einer Seite deren Titel auf. Wenn der Titel geändert wird, dann verändert sich auch der Link (wobei der alte idealerweise trotzdem noch funktioniert). Da in Zeiten des Clickbaiting den Titeln eine Schlüsselrolle in Sachen Erfolg oder Misserfolg zukommt, gibt es grosse Optimierungsbemühungen: Titel werden oft mehrfach geändert und durchprobiert. Das führt dazu, dass ein und derselbe Beitrag in Google Analytics mehrfach auftaucht und die Statistik komplett nichtssagend ist.
Es gibt auch Websites, bei denen Artikel an mehreren Stellen auftauchen. Bei publisher.ch zum Beispiel, weil Artikel einerseits der Printausgabe zugeordnet sind, in der sie erschienen sind. Andererseits werden sie thematisch in Dossiers wie Photoshop, InDesign oder Illustrator sortiert.
Das kann nur eine Statistik vernünftig aufdröseln, die auf dem Server direkt läuft und mit dem CMS verzahnt ist – und die Zugriffszahlen direkt pro Artikel erfasst. Und die auch nicht blockiert werden kann oder muss, weil sie direkt auf dem Server läuft.
«Schon immer so gemacht»
Fazit: Es gibt eigentlich nur einen Grund für Google Analytics, und das ist das gute alte «Haben wir schon immer so gemacht». Aber Tradition ist meistens ein schlechter Grund, und in dem Fall besonders.
Man könnte sich nun fragen, ob die schlechte Datenqualität nicht das erste Argument entkräftet. Salopp gesagt: Wenn die Zahlen nicht gut sind, ist es auch egal, wenn Google sie bekommt. Aber ich glaube nicht. Denn für Google sind sie noch immer sehr aussagekräftig. Google dürfte mit einer summarischen Datenlage einiges anfangen können, während man als Betreiber einer Website natürlich an den Details interessiert ist. Es sieht so aus, als ob Analytics für Google selbst sogar nützlicher ist als für die Nutzer. Ich will nicht behaupten, das sei Absicht – schliesslich wäre das schon recht nah an einer Verschwörungstheorie dran. (Wobei: Wen würde es wundern, wenn Google den Dienst nach eigenen Interessen gestaltet?) Aber es ist auf alle Fälle ein guter Grund, Analytics in den Wind zu schiessen.
Es gibt schon Gründe, die User per JavaScript zu tracken: man setzt kein CMS ein oder das CMS hat kein sinnvolles Logging oder man will mehr über die Benutzer erfahren (Bildschirmauflösung, Plugins, Verweilzeiten, Klicks auf ausgehende Links…). Bei “komplexeren” Anforderungen wie “ich will wissen, wie viele Leute über den Newsletter auf die Seite gekommen sind”, sind Tracking-Plugins der CMS meist überfordert. Ebenso mit der Erstellung von schönen Diagrammen für die Geschäftsleitung.
Aber: das ist noch lange kein Grund, einfach Google Analytics einzubinden! Es gibt freie Tracking-Tools, die auf dem eigenen Server laufen, zum Beispiel https://matomo.org/. Davon bekommt Google nichts mit, alles bleibt auf dem eigenen Server.
Danke Manuel für den Link zu Matomo. Denn das ist meine grösste Frage nach der Lektüre: Was sind die besten Alternativen für Google-Skeptiker, die trotzdem nachweisen müssen, wie oft die eigene Website besucht wurde und welche Artikel wie gut laufen?