Ich bin natürlich auch divergent

«Divergent» von Veronica Roth hat dem 16-jährigen Mädchen in mir gut gefallen. Aber das ist schon auf die «Hunger Games»-Trilogie abgefahren. Wieso auch nicht – wo man Jugendliche nicht mit Bullshit-Stories abspeisen kann wie uns Erwachsene…

Neulich habe ich kurz die Verfilmung von Divergent besprochen, dem dystopischen Roman von Veronica Roth aus dem Jahr 2011.

Die Dauntless springen gern von Gebäuden herunter und auf fahrende Züge auf. (Beide Bilder aus der Verfilmung von 2014)

Nun hat das 16-jährige Mädchen in mir darauf bestanden, dass das Hörbuch anzuhören sei. Ihr Hauptargument war, dass im Film die Unterscheidung der fünf Fraktionen zu kurz gekommen sei und darum der Plot gar nie so richtig zum Tragen komme. Dieser Begründung musste ich mich geschlagen geben, sodass ich mir, trotz Vorbehalten, die Geschichte zu Gemüte geführt habe.

So richtig bereut habe ich es nicht. «Divergent» hat mich gut unterhalten¹. Die Geschichte ist verwandt mit den Hunger Games. Dort ist die Hauptfigur bekanntlich ebenfalls ein Teenager-Mädchen, das sich einem gnadenlosen Überlebenskampf stellen muss. Der Kampf von Katniss Everdeen ist härter und brutaler, weswegen man sich der Geschichte schwerer entziehen kann.

Der Gegenentwurf zur Demokratie

Bei Beatrice Prior gibt es andererseits interessante Fragen: Wie zum Beispiel diejenige, ob wir Menschen uns fürs friedliche Zusammenleben dressieren lassen, indem wir nicht alle unsere Charakterzüge ausleben, sondern diejenigen fördern, die fürs Allgemeinwohl nützlich sind. Darauf zielt das Fraktionssystem in «Divergent» ab, das als Gegenentwurf zur Demokratie und zur offenen Gesellschaft dient, in der die Menschen ihre Freiheiten allzugern missbrauchen.

Klar: Die Antwort auf diese Frage ist ein offensichtliches Nein. Trotzdem ist das Kastensystem von «Divergent» nicht absurder als andere Herrschaftsformen, die in der Menschheitsgeschichte auch schon ausprobiert wurden.

Die Herausforderungen des Erwachsenwerdens

Und es ergeben sich aus diesem System schöne Konflikte, mit denen sich Liebhaber von Coming of Age-Geschichten bestens identifizieren können: Die Ablösung von der Familie – Identifikation mit einer Gruppe versus das Gefühl, anders zu sein und nicht dazuzugehören. Der Druck der gesellschaftlichen Anforderung, schon mit 16 Weichen fürs Leben zu stellen, ohne eine Ahnung zu haben, wer man eigentlich ist. Und all die widerstreitenden Gefühle, die man als Besitzer einer menschlichen Seele gezwungenermassen erlebt: Egoismus versus Altruismus, Selbstbehauptung versus Mitgefühl, Abenteuerlust versus der Wunsch nach Geborgenheit.

Die Fraktionen sind auch an ihren Farben zu erkennen.

Darum scheint die dystopische Ausgangslage in «Divergent» auf den ersten Blick zwar als reichlich an den Haaren herbeigezogen, um sich dann als dramatisch ausgesprochen fruchtbar zu entpuppen. Die Konflikte im Buch haben das 16-jährige Mädchen in mir gepackt, und auch dem erwachsenen Mann haben sie genügend Food for thought geliefert.

Der Showdown ist etwas hölzern

Die Frage von Gewalt und Schuld wird überzeugender behandelt als etwa im kürzlich kritisierten «Ender’s Game». Und auch wenn die Geschichte gegen Ende etwas von ihrer evokativen Kraft verliert und der Showdown etwas hölzern ausfiel, werde ich mich und meinem 16-jährigen Alter Ego die Fortsetzung wohl nicht verweigern können.

Und was meine Identifikation mit dem Stoff angeht. Ich bin natürlich auch divergent. Oder sonst als Nerd natürlich Erudite.

Fussnoten

1) Zwecks Spoilervermeidung wird die Zusammenfassung wie üblich in diesem Blog in die Fussnote verbannt: Nach einer nicht näher benannten zivilisatorischen Katastrophe ist die bekannte Welt auf die Grösse der Stadt Chicago zusammengeschrumpft. Die Leute, die überlebt haben, wollen von der Demokratie nichts mehr wissen, denn die hat sich offensichtlich nicht bewährt. Die Menschen teilen sich darum in fünf Fraktionen (factions) ein:

Abnegation (deutsche Übersetzung: Altruan) sind die Selbstlosen, die anderen Menschen aufopferungsvoll helfen. Dauntless (deutsch Ferox) sind die Kämpfernaturen, die Polizei- und Militäraufgaben innehaben. Erudite (deutsch: Ken) versammelt die Nerds unter den Fraktionen. Diese Fraktion treibt die Wissenschaft voran. Amity (deutsch: Amite) ist die friedfertige Fratkion, die Gewalt ablehnt. Und Candor setzt die Wahrheit über alles.

Die Natur des Menschen zähmen

Die Fraktionen haben den Zweck, die Natur des Menschen zu zähmen, indem die menschlichen Charakterzüge nicht frei zur Entfaltung kommen, sondern in eine ganz klare Richtung gelenkt werden. Es wird von den Mitgliedern vollkommene Identifikation mit der Fraktion verlangt. Die Fraktionen leben getrennt und durchmischen sich kaum. Der Clou ist nun, dass Abnegation als einzige Fraktion die Macht und Regierungsgewalt innehaben darf.

Die Mitglieder dieser Fraktion dürsten von ihrer Veranlagung her nicht nach Macht, denn sie sehen ihren Lebenszweck im Dienen. Mit 16 Jahren wird jeder junge Mensch einem Test unterzogen. Er beinhaltet eine Art Charakteranalyse, die zeigen soll, welche Fraktion zu einem passt. Doch wofür man sich entscheidet, bleibt eine freie Entscheidung. Sie wird dadurch erschwert, dass man sich von seiner Familie verabschieden muss, wenn man sich gegen die Fraktion entscheidet, in der man aufgewachsen ist. Denn es gilt die Regel, dass die Fraktion vor der Familie kommt (faction before blood) und Blut eben nicht dicker als Wasser ist.

Würdig für die Fraktion – oder ein Aussätziger

Nach dem Charaktertest gibt es eine Initiation, in der man sich würdig erweisen muss. Wenn man dabei scheitert, wird man ausgestossen. Als Fraktionsloser hat man kein Anrecht auf einen Beruf und lebt in Armut am Rand der Gesellschaft. Es droht aber noch eine grössere Gefahr: Man könnte nämlich «divergent» sein und typische Eigenheiten mehrerer Fraktionen aufweisen. Dann gilt man als Abweichler und Gefahr für die Gesellschaft. Denn divergente Menschen bringen das schöne Kastensystem durcheinander.

Nun wundert es nicht, dass die Hauptfigur, Beatrice Prior, eine Divergente ist. Sie fällt beim Test durch, hat aber immerhin das Glück, dass die Testerin mit ihrem Bruder ein ähnliches Schicksal schon erlebt hat, sie deckt und das Testresultat fälscht. Beatrice, oder Tris, wie sie sich nun nennt, entscheidet sich für Dauntless. Sie muss während des Initiationsritus kämpfen lernen, wobei das für sie als Spätentwicklerin doch sehr hart wird. Auch der psychopathisch veranlagte Trainer Eric, sowie der skrupellose Mit-Aspirant Peter machen ihr das Leben schwer. Aber sie hat auch Verbündete: Christina, Al und Will, und vor allem der zweite Trainer Four, der sie besser zu verstehen scheint, als es für seine Funktion angemessen ist.

Die Urängste als Kampfmittel

Die Geschichte von «Divergent» besteht nun darin, dass Tris sich während ihrer Initiation bewähren muss. Bei der ersten Runde, dem Kampf, tut sie das mehr schlecht als recht. Doch bei der zweiten Runde, die aus mentalen Trainigs und Tests besteht, ist sie überaus erfolgreich. Sie trickst die simulierten Konfrontationen mit ihren Urängsten aus, weil sie als divergente Kandidatin diese als irreal erkennt. Das hilft ihr einerseits – erhöht andererseits aber auch die Gefahr der Enttarnung.

Beim Showdown der Geschichte erkennt Tris, dass die Fraktionsvorsteherin der Erudite, Jeanine Matthews, einen Aufstand gegen die Altruan plant und dazu mithilfe eines Serums die Dauntless instrumentalisiert. Tris verhindert den Erfolg dieses Putschs mithilfe von Four und ihrer Eltern. Dabei kommt heraus, dass ihre Mutter ursprünglich aus der Dauntless-Fraktion kam und sie damit eine Familientradition fortsetzt. Beim Aufstand kommen ihre Eltern ums Leben. Tris findet heraus, dass Four, dem sie inzwischen romantisch verbunden ist, eigentlich Tobias Eaton heisst und der Sohn von Marcus Eaton ist, der dem Abnegation-Führungsgremium vorsteht.

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