Seit gut drei Monaten habe ich den Kindle3 im Einsatz. Zeit, um darüber nachzudenken, wie sich mein Leseverhalten seither verändert hat.
Pbooks nicht verdrängt
Alles in allem hat es sich nicht gross verändert. Ich lese mindestens die Hälfte meiner Lektüre als Non-E-Book. … also als ganz normales Buch aus Papier. Um es einfacher zu machen, werde ich in diesem Blogbeitrag dafür den Begriff Pbook verwenden. «P» für Papier.
Wenn ich ein Buch geschenkt bekomme oder leihe, dann als Pbook. Ausserdem bin ich nicht immer in der Laune, Bücher in Englisch zu lesen. Es gibt inzwischen zwar einige Bücher in Deutsch, aber das Beste, was ich da gefunden habe, ist Krieg und Frieden, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde, Der Prozess, Also sprach Zarathustra und natürlich, als absolutes Highlight, Winnetou I–IV. Aber oberflächlich wie ich bin, gelüstet es mich feierabends jeweils nach seichter Lektüre.
Wucher
Ausserdem: Wieso muss ich für Herrn Nietzsches nicht eben leichte Lektüre bei Amazon 2.99 US-Dollar abdrücken, wenn ich das Buch von gutenberg.org gratis herunterladen kann? Ich fände es ok, wenn Amazon für die Zustellung per Whispernet 10 oder 20¢ verlangen würde, aber drei Dollar ist Wucher.
Apropos Whispernet: Ich würde heute die WLAN-Version dem 3G-WLAN-Kindle vorziehen. Es ist zwar nett, die Möglichkeit zu haben, unterwegs spontan ein Buch aufs Lesegerät zu holen, aber sogar während den Reisen über die Feiertage Ende 2010 habe ich kein Buch mobil gekauft, obwohl ich wild dazu entschlossen war. Für längeres Suchen reagiert der Store im Kindle zu träge. Für das fröhliche Büchersuchen weiche ich doch lieber auf den Computer oder das iPhone aus. Und die Batterielaufzeit des WLAN-Kindle soll gegenüber dem 3G-WLAN-Kindle deutlich besser sein.
Wo bleibt der Stromsparmodus?
Jedenfalls muss man sich sowieso angewöhnen, die Konnektivität nach Gebrauch sofort abzuschalten. Lässt man sie eingeschaltet, entlädt sich die Batterie auch bei Nichtgebrauch zügig. Das ist meines Erachtens ein Konstruktionsfehler. Da fehlt ein Stromsparmodus, der WLAN und 3G automatisch deaktiviert. Dabei gibt es nichts Ärgerlicheres, als wenn man in Vorfreude auf ein halbes Stündchen Lesevergnügen das Gerät zur Hand nimmt und feststellen muss, dass es erst aufgeladen werden will. Ein herber Dämpfer für die Ebook-Euphorie, die einen zum Pbook greifen lässt…
Der Kindle als Gerät taugt hervorragend in fast allen Lesepositionen. Auch badewannentauglich ist er, was ich als notwendiges Merkmal erachte. Beim längeren Lesen stört es mich, ständig die Tastatur vor der Nase zu haben. Logisch, dass es die braucht, weil man sonst nicht mit dem Gerät interagieren könnte, und eine On-Screen-Tastatur für den Kindle nicht das Wahre wäre. Aber aus ästhetischer Sicht wünsche ich mir ein Gerät, dass nur aus dem Bildschirm besteht. Und einem Rahmen rundherum, den man zum Anfassen braucht. Beim Lesen hat man auch nur die Seiten des Buchs vor Augen.
Ein Buch ist mehr als sein Inhalt
Ein wenig fehlen mir auch die typografischen und satztechnischen Eigenheiten des Pbook. Bücher unterscheiden sich durch ihre Seitengrösse, den Font, die Gestaltung von Kapiteltiteln, Schriftgrösse und viele kleine typografische Details. Es ist natürlich ein Vorteil des Ebook, dass man als Leser Kontrolle über diese Eigenschaften hat und die Schriftgrösse selbst einstellen darf. Trotzdem geben diese Dinge einem Buch Charakter – ganz zu schweigen vom Papier, das manchmal edel, mitunter billig und, gerade bei englischen Büchern, auch mal billig daherkommt. Ein Buch ist mehr als sein Inhalt…
Natürlich, wir haben uns auch bei MP3 daran gewöhnt, dass wir das Cover nicht mehr in handfester Form und schon gar nicht in der opulenten LP-Grösse von dreissig auf dreissig Zentimetern in die Finger bekommen, sondern nur noch virtuell als Digitalbild mit 500×500 Pixeln. Auch bei den Ebooks werden wir den Verlust an Sinnlichkeit verschmerzen. Trotzdem ist das ein Preis für den Fortschritt, der mir etwas weh tut.
Apropos Schmerzen
Apropos Schmerzen: Amazon, ist es wirklich so schwierig, in einem Buch kein Codepage-Wirrwarr anzurichten? Bei The Adventures of Sherlock Holmes erscheint jeder französische Accent als Unicode-Salat:
“Very truly yours, Irene Norton, n�e Alder”
… muss das wirklich sein, ihr ignoranten Amis?
Die Möglichkeit, Wörter im Oxford Dictionary nachzuschlagen, nutze ich regelmässig. Das Notizfeature ist ebenfalls sehr praktisch und mir gefallen die Popular highlights. Die Stellen, die von vielen Lesern markiert wurden, sind im Buch durch graue Unterstreichung ersichtlich und man sieht, wie viele Leute die gleiche Stelle angezeichnet haben.
Meist wird das Offensichtliche markiert, aber aufschlussreich ist das trotzdem. Auch, weil die Popular highlights oft am Anfang der Bücher zu finden sind. Das will wohl heissen, dass viele Leute Bücher nicht zu Ende lesen. Nicht genutzt habe ich die Funktion, Highlights über ein soziales Netz zu sharen. Das liegt daran, dass mein Facebook-Passwort Sonderzeichen enthält, die sich über die Kindle-Tastatur nicht eingeben lassen. Auch das ist noch nicht so ganz ausgereift.
Bücher resetten
Apropos: Einmal hat sich der Kindle komplett aufgehängt und musste durch einen Reset zum Leben erweckt werden. Auch daran will ich mich nur ungern gewöhnen.
Büchermuseen
Fazit: Die letzte analoge Bastion des Pbook wird so schnell nicht fallen. Selbst wenn die noch vorhandenen Mängel ausgebügelt werden, ist der sinnliche Aspekt des analogen Lesens tiefer verwurzelt als bei allen anderen Medien.
… wobei mir hier ein Exkurs zu einem anderen analogen Medium gestattet sei, das dem digitalen Pendant weichen muss. Die Aussage…
99 Prozent der Zuschauer würden keinen Unterschied bemerken, ob der Film digital oder analog auf die Leinwand projiziert werde, sagt Beat Käslin, Geschäftsführer Arthouse Commercio Movie AG. (Tagesanzeiger, 12.01.2011; Seite 17, im Artikel «Kleine Kinos in grosser Bedrängnis: Digitale Projektoren sind zu teuer»)
… würde ich doch sehr stark infrage stellen. Vielleicht nehmen viele Zuschauer den Unterschied nicht bewusst wahr. Ich vermisse im Kino das «analoge» Gefühl von Zelluloid stark. Das wird für mich zu einem grossen Teil damit wettgemacht, dass die digitale Projektion weniger flimmert als ein herkömmlicher Projektor. Dieses Flimmern ermüdet zumindest meine Augen schnell, habe ich festgestellt.
Zurück zum Buch. Die Beziehung zu diesem Medium ist, trotz der viel postulierten Lesefaulheit, inniger als zu jedem anderen Medium – weil wir damit aufwachsen, weil wir es für den Konsum in den Händen halten. Das wird zur Folge haben, dass sich der Übergang vom Pbook zum Ebook noch in die Länge ziehen wird. Aber in ein, zwei Generationen ist er gleichwohl durch. Dann wird es Bücher nur noch in Museen, Antiquariaten und bei elitären Snobs zu bestaunen geben.