Windows 7: Schlechter als sein Ruf

Die kommende Betriebssystem-Version von Microsoft wird rundherum gelobt. Aber sind die Vorschusslorbeeren wirklich gerechtfertigt?

Mit Windows 7 hat Microsoft die beste Version des Betriebssystems aller Zeiten im Köcher. Zu der Ausse hat sich Leo Laporte in der letzten Folge seines «This Week in Tech»-Podcasts verstiegen. Auch Paul Thurrott gibt Vorschusslorbeeren aus, wobei mich schon die schiere Zahl seiner Beiträge zu dem neuen Windows aus den Socken haut.

Die Vorab-Version weckt keine Begeisterung

Ich bin mit dem Release Candidate von Windows 7 (Build 7100) seit gut einer Woche in Betrieb unterwegs und habe in dieser Zeit weder ekstatische Gefühle entwickelt noch einen «Nerdgasm» erlebt. Es stellt sich immerhin ein mildes Wohlwollen ein. Windows 7 macht einen soliden Eindruck und scheint aus einem Guss gebaut. Den vermeintlich grössten Vorteil konnte ich indes noch nicht geniessen, weil das Betriebssystem bei mir in Suns VirtualBox läuft und dort nicht seine volle Leistung entfaltet.

Da es aber sogar auf der virtuellen Maschine flink unterwegs ist, sind die Hoffnungen in ein flotteres Arbeitstempo berechtigt. Windows 7 dürfte die Performance-Sünden von Vista ausbügeln. Und es soll sich selbst auf Netbooks gut machen, denen man Vista nicht zumuten darf.

Das sind schöne Neuigkeiten, lieber euphorisierter Leo, aber erfüllt Windows 7 damit nicht viel mehr als die Minimalansprüche? Dass Vista seine Nutzer durch sein träges Wesen und ständigen Sekundenschlaf den Nerv raubte, ist hinlänglich bekannt.

Minimalforderungen

Es muss auch als offenes Geheimnis angesehen werden, dass Vistas Nachfolger gar keine andere Wahl hat, als bei der Kompatibilität zuzulegen. Das ist zwingende Voraussetzung, wenn Microsoft die vielen Vista-Hasser, die heute noch mit XP fuhrwerken, zum Umstieg bewegen will. (Zumindest wenn der Umstieg auf eine neue Windows-Version und nicht auf Mac OS X oder Ubuntu erfolgen soll.)

Danke, es freut mich auch, dich zu sehen.

Es bleibt nicht viel, wenn man diese Punkte und die vielen tatsächlich nützlichen Detailverbesserungen ausser Acht lässt. Microsoft hat ein bisschen an der Taskleiste geschräubelt. Sie erinnert funktional nun ans Dock von Mac OS X, und optisch an eine alte Suse-Linux-Version.

Die Innovation, die man hier allenfalls findet, sollte Microsoft jedenfalls nicht der Herkunftsbezeichnung «Redmond» versehen. Auffällig ist an der Taskleiste auch, dass nun zum einen die Icons der laufenden Programme vorfindet, zum anderen aber auch die Symbole seiner Lieblingsprogramme anheften kann, Für letzteres war bislang die Schnellstartleiste zuständig. Ob diese Vereinigung Glück verheisst? Frisch gebackene Umsteiger werden damit im ersten Moment vor allem Probleme haben.

Die neuen Windows-Bibliotheken werden für Verwirrung sorgen

Für Verwirrung sorgen werden auch die neuen «Bibliotheken». Sie führen Inhalte aus verschiedenen Ordnern zusammen. Für Power-User eine nützliche Sache.

Die ungeübten Anwender haben bei Windows heute schon Mühe zu verstehen, wo Daten und Dokumente gespeichert sind. Ihnen wird die Datenverwaltung garantiert nicht leichter fallen, wenn mit diesen Bibliotheken eine zusätzliche Meta-Ebene ins Spiel kommt. Und auch die ungeübten Anwender werden von der ersten Sekunde mit den Bibliotheken konfrontiert. Sie sind nämlich für die zentrale Verwaltung von Bildern, Musik, Dokumenten und Videos auserkoren.

Vielleicht etwas gar viel grün?

Ansonsten wurde das Startmenü etwas aufgebrezelt. Die Kombination aus Leiste und Menü finde ich nach wie vor unpraktisch. Auch die Art und Weise, wie häufig genutzte Programme und «Alle Programme» organisiert sind, ist unausgegoren. Daran verbessert Windows 7 nichts. Ebensowenig an einem der grössten Ärgernisse von Vista: Die unübersichtliche Systemsteuerung.

Die Schleichwege sind einfacher

Ich finde Einstellungen auch heute bei XP noch schneller, obwohl ich seit mehr als zwei Jahren mit Vista arbeite. Die Einteilung in Kategorien und Hierarchien macht es umständlich, jemandem den Klickweg zu einer bestimmten Option zu erklären. Ich bin vor Jahren dazu übergegangen, den Leuten den Zugang via Ausführen-Dialog zu empfehlen («Die Windows-Schleichwege»). Aber kann es angehen, dass man bei einem modernen Betriebssystem mit grafischer Oberfläche zur Befehlszeile Zuflucht nehmen muss, um zuverlässig zu dieser Checkbox oder jenem Radiobutton zu gelangen? Auch hier macht Windows 7 seine Sache leider keinen Deut besser.

Kurz und gut: Ich sehe viele Detailverbesserungen und manches, auf das man sich freuen kann. Die meisten Neuerungen werden die einen mögen und die anderen für überflüssig halten, aber immerhin geht es mit Windows voran. Wirkliche Innovation hingegen sehe ich nicht. Es gibt weit und breit kein Feature, mit dem Microsoft dem in die Jahre gekommenen Konzept des Desktop-Betriebssystems neues Leben einhauchen würde.

Apple ist konsequenter

Apple ist konsequenter. Die Entwickler kümmern sich konsequent um die Optimierung und versprechen mit Snow Leopard «zero new end user-visible features». Alle Energie und Entwicklerressourcen auf Leistung, Sicherheit und Kompatibilität zu konzentrieren, wäre auch für Windows 7 nicht verkehrt gewesen.

So aber müssen wir wieder neue Sachen lernen und uns bei manchen Dingen umgewöhnen. Ich als Journalist, der den Lesern Features und Funktionen erklärt, werde im Oktober, wenn Windows 7 erscheinen soll, drei Windows-Systeme bedienen müssen: XP, Vista und obendrein Windows 7. Im schlimmsten Fall ergibt das drei verschiedene Erklärungsvarianten. Das ist nicht exakt das, was ich unter Fortschritt verstehe.

Die Sprunglisten haben etwas für sich.

Immerhin, trotz professioneller Skepsis habe ich eine Funktion entdeckt, auf die ich mich freuen kann: Die so genannten «Sprunglisten», in Englisch «Jump lists» genannt. Man könnte auch hier ein Haar in der Suppe entdecken und bemängeln, dass diese Sprunglisten auch nichts anderes bringen als das Kontextmenü von Mac OS X.

Es zeigt seit Jahr und Tag ein nützliches Menü an, wenn man im Dock für einige Sekunden auf ein Icon klickt. Aber hier hat Microsoft eine gute Idee auf sinnvolle Weise zu Ende gedacht. Als Windows-7-User wird man grosse Sprünge machen, sobald optimierte Programme eigene Sprunglisten bereithalten werden.

2 Kommentare zu «Windows 7: Schlechter als sein Ruf»

  1. Hi,

    ich brauchte zwar etwas Zeit aber ich glaub jetzt bin ich durchgestiegen. Du willst in deinem riesengroßen Essay einfach nur eins sagen: “Microsoft, es ist eine Selbstverständlichkeit für ein gekauftes Produkt {d. i. Vista}, dass es nicht um Längen schlechter läuft als das Vorprodukt {d. i. XP}”.

    Vielleicht muss man dir da einfach mal zustimmen, dass der W7-Hype deswegen so exorbitant ist, da Vista im Preis-Leistungsverhältnis nicht Untergeschoss war, sondern Keller II oder III 🙂
    Dass dann ein Nachfolgeprodukt, dass um einiges besser als XP ist, in jedem Vergleich spitze abschneidet, liegt wohl in der Natur der Sache 🙂

  2. Ja, deine Zusammenfassung ist kurz, bündig und trifft den Nagel auf den Kopf. Da ich in letzter Zeit viel twittere, war es mir wohl ein Bedürfnis, zur Abwechslung etwas ausführlicher zu einem Thema zu äussern. 😉

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