So muss das moderne Buch

Wenn ich mich als Beispiel nehmen darf, würde ich gern aufzeigen, wie sich meine Lesegewohnheiten verändert haben – und Tipps abgeben, wie die Verleger darauf reagieren sollten.

Neulich habe ich hier einen Podcast gehört, der die Krise des Lesens postulierte. Auch der (kostenpflichte Abo+-)Artikel aus dem Tagesanzeiger Jeder Zweite kauft keine Bücher mehr stösst ins gleiche Horn.

Medienmetamorphose. (Bild: sik-life/Pixabay, CC0)

Der deutsche Buchhandel habe sechs Millionen Käufer verloren. Die Gründe würden auf der Hand liegen: Das gute alte Buch erfährt immer mehr Konkurrenz. Zum Beispiel durch Streaming von Serien und Musik. Und durch die vielen Zerstreuungsmöglichkeiten, die das Smartphone so bietet. Ausserdem finden wir gehetzten Zeitgenossen immer weniger Zeit, uns mit einem Buch aufs Sofa zu setzen. Schuld hier natürlich die ausbeuterischen Arbeitgeber, die in trickreicher Art und Weise es schaffen, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit aufzuweichen (höre dazu auch Tag der Arbeits-Apps).

Im Artikel äussern sich Fokusgruppen wie folgt:

Die Befragten fühlten sich von der Schnelllebigkeit und dem Druck des Alltags gestresst, es fehle ihnen schlicht die Zeit und die Ruhe zum Lesen. Die Ablenkung durch Smartphone und soziale Medien verhindere jene Konzentration, die Lektüre nun mal brauche. Schliesslich böten gut gemachte TV-Serien, wie sie etwa Netflix anbiete, eine Form von Unterhaltung, die weniger anstrenge als das Lesen.

Aus meiner Warte stimmt das – und ist gleichzeitig komplett falsch: Mein Kindle ist völlig verstaubt und ich habe seit Jahren kein gedrucktes Buch mehr gekauft. Trotzdem konsumiere ich mehr Bücher denn je (vielleicht abgesehen von der Karl-May-Phase in meinen Teenietagen).

Der Hörbuchkonsum, auf die Minute aufgeschlüsselt

Ich konsumiere sie aber in Form von Hörbüchern. Ich habe zwar, wie viele meiner Zeitgenossen, kaum Gelegenheit, mich mit einem Buch aufs Sofa zu setzen. Aber ich habe sehr viel Gelegenheit, Bücher zu hören, während ich etwas tue: Beim Sport, bei der Hausarbeit, beim Pendeln, beim Spaziergang mit dem Töchterchen, wenn sie im Buggy eingeschlafen ist oder sich auf dem Spielplatz prächtig selbst amüsiert – zu den Gelegenheiten, die sich auch wunderbar für Podcasts eignen.

Das lässt sich gut quantifizieren, da die Audible-App (siehe auch hier) mir sagt, wie lange ich sie benutzt haben. Das sind zwei Monate, 19 Tage 13 Stunden und 34 Minuten. Leider sagt mir die App nicht exakt, seit wann sie diese Daten aufzeichnet, sondern nur ungefähr. Aber wenn wir mal mit dem 1. Januar 2014 rechnen, dann sind das 43 Minuten pro Tag. Das scheint mir viel – ich hätte auf höchstens eine halbe Stunde im Schnitt getippt. Zusammen mit 45 Minuten Podcast käme ich etwa auf die Zeit, die ich über den Daumen gepeilt für Audiokonsum aufwende. Aber bekanntlich liegt man bei solchen Schätzungen auch gerne daneben. Es ist jedenfalls viel mehr als fürs Fernsehen und sogar mehr als für Netflix.

Ich erscheine als Nichtleser

Und damit sind wir beim Punkt: Aus Sicht des deutschen Buchhandels muss es so aussehen, als ob ich vom Leser zum Nichtleser geworden wäre, weil ich das Medium des gedruckten Buches gegen das Medium des gesprochenen Buches eingetauscht habe und meine Bücher bei Audible beziehe. Dieser Umsatz kommt nicht dem Buchhandel im deutschsprachigen Raum zugute. Ich bin Kunde beim US-amerikanischen Mutterhaus audible.com. Und ich nehme an, dass ich als Nichtleser gelten würde, selbst wenn ich mich bei audible.de eindecken würde. Amazon Deutschland zählt nicht zum deutschen Buchhandel, weil branchenfremd: Weder klassischer Verlag noch herkömmliche Buchhandlung, sondern böser Disruptor.

Nun kann man darüber streiten, ob ich typisch für den modernen Leser bin. Vielleicht, vielleicht nicht. Jedenfalls denke ich (ganz unbescheiden), dass ich typisch für den Leser sein könnte, der Buch- und Verlagswesen rettet. Denn ich glaube tatsächlich, dass das Buch der Zukunft mobiler, flexibler und multitaskingfähig werden muss. Der Vergleich mit der Musikbranche liegt auf der Hand: Kaum einer hört Musik noch in der guten Stube auf der grossen Stereoanlage – mit geschlossenen Augen und vollkommen versunken in der Klangwelt.

Die Reaktion aufs Überangebot

Nein, man hört Musik unterwegs mit Kopfhörern. Man streamt sie auf seine smarten Lautsprecher oder die Airplay-Box. Man konsumiert sie im Auto übers Bluetooth-Autoradio. Und man tut das sehr oft nebenbei, während man noch irgend etwas anderes macht. Denn eine Reaktion auf das Überangebot der Möglichkeiten ist Kompression: Man macht mehr Dinge parallel oder quasi gleichzeitig und quetscht so viel von allem in die beschränkte Zeit. Bei den Podcasts komprimiere ich sogar wortwörtlich: Viele der langatmigen Produktionen höre ich mit anderthalb- oder zweifacher Geschwindigkeit an, weil ich nicht auf sie verzichten will, aber auf keinen Fall die 5 Stunden erübrigen kann, die eine durchschnittliche «Bits und so»-Folge dauert. Bei schön gelesenen Hörbüchern kommt das natürlich nicht in Frage.

Klar, bei der Musik ist die Verlagerung von dem stationären, konzentrierten Konsum zu der mobilen Nebenbei-Nutzung einfacher als beim Buch. Musik ist und war schon immer Audio. Die Bücher hingegen waren früher gedruckt und wurden via Augen konsumiert. Nur wenn man sie als Hörbuch nutzt, kommen die Ohren ins Spiel. Das macht es erforderlich, Produktionsprozesse total zu verändern.

Reagiert die Branche nun auf diese Veränderungen? Versucht man, Leser wie mich (a.k.a. die Umsatzträger der Zukunft) zurückzugewinnen? Im Tagi-Artikel ist Amazon nur einmal indirekt erwähnt, im Kasten. Dort gibt es ein launiges Bonmot zur «Abwanderung nach Amazonien». Hörbücher? Audible? Fehlanzeige.

Die Verleger reagieren träge

Die deutsche Verlagsbranche reagiert träge bis gar nicht auf den Medienwandel und verpasst die Chancen, die sich daraus ergeben. Das war auch mein Eindruck, als ich den Artikel Google mischt den Hörbuch-Markt auf gemacht habe, in dem es trotz des Titels vor allem um Audible geht. Das Hörbuch wurde vor ein paar Jahren, als es noch vor allem auf CD zu kaufen war, als Hoffnungsträger gesehen, doch diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Den Umstieg auf ein Downloadmodell hat man fast komplett verpasst – und die Nutzererfahrung der bestehenden Downloadmöglichkeiten ist mehr als bescheiden, wie ich im Beitrag Etwas dürftige Auswahl, ein bisschen wenig Herzblut darlege.

Hörbücher als Downloads in der Tolino-App: Es funktioniert, ist aber nicht gerade attraktiv.
Hörbücher als Downloads in der Tolino-App: Es funktioniert, ist aber nicht gerade attraktiv.

Doch es braucht Zeit, Lesegewohnheiten zu ändern. Als ich schon Podcast-Fan war, hatte ich meine Vorbehalte gegenüber Hörbüchern. Es ist anfänglich gewöhnungsbedürftig, eine fremde Stimme im Kopf zu haben. Doch man lernt sie zu schätzen. Wenn man ein gutes Buch als gut gelesenes Hörbuch geniesst, ergibt das eine zusätzliche Dimension, die ich auf keinen Fall mehr missen möchte.

Man könnte die Sache durchaus offensiv angehen. Amazon hat zum Beispiel Whispersync auf Lager: Diese Funktion bindet Hörbuch und Audiobuch aneinander: Die Leseposition wird in beiden Medien synchronisiert, sodass der Leser zwischen ihnen wechseln kann. Eine tolle Idee, die es Amazon nebenbei erlaubt, ein Buch doppelt zu verkaufen – auch wenn das zweite Medium deutlich günstiger abgegeben wird.

Einstiegsdroge

Natürlich kann Whispersync auch hervorragend als Einstiegsdroge für Hörbücher dienen: Man könnte Ebook-Nutzern das Hörbüch sehr günstig abgeben oder anfänglich, zum Beispiel für die ersten fünf Titel sogar verschenken. Das würde die Einstiegshürden abbauen und die Leute darauf bringen, wie praktisch ist, wenn man in den Fällen, wo man nicht lesen kann, hören darf.

Und noch etwas: Hörbücher könnten noch viel besser auf die Multitasking-Nutzung ausgelegt werden. Dazu habe ich ein paar Vorschläge, die gerne auch von Audible befolgt werden dürften, und die in diesem Blog im Beitrag Wie Hörbücher technisch zu verbessern sind zu lesen sind.

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