Worum geht es hier eigentlich?

Beim Buch «Infinite» von Jeremy Robinson war meine Ratlosigkeit zwar nicht unendlich, aber doch ziemlich gross.

Also, erst einmal geht es um das Buch Infinite von Jeremy Robinson (Amazon Affiliate)¹. Aber dann geht es um die Frage, worum es in diesem Buch eigentlich geht. Es ist nämlich eine bunte Collage aus diversen Scifi-Motiven: Aufbruch ins All und Exodus von der Erde, bösartige künstliche Intelligenzen, Leben in der Simulation, digitale Unsterblichkeit und Liebe in Zeiten von perfekter virtueller Realität. Und auch etwas Kosmos-Horror in Form von seltsamen Mutantenfröschen und Weltraum-Zwergen ist mit dabei.

Die neue Heimat der Menschheit? Kepler 452b. (Bild: NASA Ames/JPL-Caltech/T. Pyle/Wikipedia.org, CC0)

Auf das Buch eingelassen habe ich mich wegen dieser Beschreibung hier:

The Galahad, a faster-than-light spacecraft, carries fifty scientists and engineers on a mission to prepare Kepler 452b, Earth’s nearest habitable neighbor at 1400 light years away. With Earth no longer habitable and the Mars colony slowly failing, they are humanity’s best hope.

Die Erde ist nicht mehr bewohnbar, darum bricht sie zu einem neuen Planeten auf. Das hat mich angefixt, zumal ich auf Netflix erst kürzlich die Serie Ascension gesehen habe: Dort geht es um ein riesiges Raumschiff, das die USA schon in den 1950er-Jahren auf die Reise zum Planeten Proxima Centauri geschickt haben, um diesen zu kolonisieren. Die USS Ascension wurde schon während der Präsidentschaft von John F. Kennedy losgeschickt. Und zwar ohne dass die Menschheit davon Kenntnis genommen hat. Klar, dass da etwas nicht stimmen kann.

Aufgewacht, umgebracht

Auch bei «Infinite» stimmt so einiges nicht. Der Hauptdarsteller, Ich-Erzähler und Computer-Crack William Chanokh erwacht aus dem Kälteschlaf und wird sogleich von seinem Freund und Arbeitskollegen Tom umgebracht. Erstaunlicherweise überlebt er das, um sogleich noch einmal umgebracht zu werden, was ebenfalls eine unmittelbare Regeneration zur Folge hat und es Wiliam ermöglicht, sich Tom zu entledigen. Trotzdem ist die Mission zur Besiedlung von Kepler 452 bereits gescheitert. Tom hat nämlich die Hälfte der Besatzung umgebracht, das Schiff auf einen neuen Kurs gebracht und auf eine Weise in die automatischen Systeme eingegriffen, dass eine Korrektur nicht so einfach möglich ist.

Zu meiner leichten Enttäuschung wird also nichts aus der Reise zu einer neuen Heimat für die Menschheit. Nein, Autor Jeremy Robinson schickt seine Figur auf eine einsame Robinsonade durchs kalte All und durch die Ewigkeit. Denn wie William herausfindet, wurde er genetisch so verändert, dass er nurmehr schwer umzubringen ist. Er dürfte nicht komplett unsterblich sein – aber auf natürlichem bzw. herkömmlichem Weg wird ihn der Tod nicht ereilen.

Was würde ein richtiger Held an dieser Stelle tun? Natürlich, er würde alles daran setzen, die Mission zu retten. Vielleicht liesse sie sich auch mit der Hälfte der Besatzung noch erfüllen. Sein Schiff, die Galahad, ist womöglich nicht das einzige, auf das die Menschheit ihre Hoffnung gesetzt hat. Darum ist noch nicht alles verloren…

Kein Held, sondern Eskapist

Doch William Chanokh ist kein solcher Held. Er versucht zwar, Toms Verschlüsselungscodes zu knacken und die komplette Herrschaft über die Galahad zurückzuerlangen. Doch abgesehen davon tut er das, was nur einem Nerd einfallen kann: Er konzentriert sich auf den Super-Computer des Schiffs und dessen überragende Virtual-Reality-Fähigkeiten.

Die VR ermöglicht es William, die grosse Flucht (the great escape) in eine simulierte Welt anzutreten. In der vergnügt er sich mit Gal, dem personifizierten Schiffscomputer. Er wurde ursprünglich geschlechtslos konzipiert, lässt sich mit einem grösseren Effort aber zur attraktiven Gefährtin umprogrammieren. Jaja, so durchschaubar, wir männlichen Computernerds.

Doch so richtig klappt es nicht mit der grossen eskapistischen Nummer. Gal verwechselt William mit Tom, was diesen hochgradig irritiert. Er bricht den great escape ab und stellt sich den Tatsachen: Es scheint, als ob Tom die Systeme des Schiffs in grösserem Mass korrumpiert hat als vermutet. Und tatsächlich: Es entwickelt sich ein Kampf mit umprogrammierten Drohnen, der für Wil zwar unangenehm, aufgrund seiner Unsterblichkeit aber nicht so richtig ein Problem ist.

Das Problem mit der Unsterblichkeit

… und genau das ist das Problem mit der Unsterblichkeit. Die Kampfszenen beeindrucken einen als Leser nicht so richtig, weil keine existenzielle Gefahr für die Hauptfigur ausgeht. Und so dümpeln die Geschehnisse an dieser Stelle etwas dahin. Ich gehe auf die gleich noch etwas weiter ein, aber um nicht zuviel zu spoilern, hier mein Fazit:

Wie gesagt, ist «Infinite» ein Potpourri aus diversen Scifi-Motiven. Da die Virtual Reality eine wichtige Rolle in Toms Leben spielt, stellt im Verlauf der Geschichte natürlich die Frage, was Simulation ist und was Realität. Es entsteht sogar eine Situation wie in der hier Magie 2.0-Reihe von Scott Meyer (siehe Ein bisschen flügellahme Drachen, dort sind auch die Besprechungen der älteren Folgen verlinkt): In der Simulation sind die Figuren nie in echter Gefahr und obendrein quasi unsterblich, weil sie die Parameter der Simulation jederzeit beeinflussen können.

Aus erzählerischer Sicht potenziert das die Probleme, die sich bereits aus der Unsterblichkeit ergeben haben: Die Hauptfigur ist nie in echter Gefahr und keinen echten Herausforderungen ausgesetzt. Sie kann sich jeder unangenehmen Situation durch etwas Mogeln (einen Cheat) entziehen.

Superhelden-Geschichten haben ein Spannungsproblem

Scott Meyer setzt bei Magie 2.0 darum nicht auf die Spannung, sondern auf den Humor. Die zwischenmenschlichen Querelen bleiben auch den omnipotenten Magiern erhalten. Auch bei Jeremy Robinson gibt es das Beziehungselement, das allerdings etwas schmalziger ausfällt. William bandelt mit einer Kollegin an, mit der schon Tom etwas hatte, und die das Massaker überlebt hat. Das ist schmalzig genug, um an eine schlechte Romcom zu erinnern. Und Jeremy Robinson bedient sich auch des Tricks, die Grenzen zwischen VR und Realität zu verwedeln und den Leser im Unklaren zu lassen, was nun echt und was bloss simuliert ist.

Fazit: Eigentlich eine interessante Idee, ein Buch aus unterschiedlichen Versatzstücken zu zimmern – und den Leser an verschiedenen Motiven vorbeizuführen und ihn im Unklaren zu lassen, worauf die Sache letztendlich wirklich herausläuft. Doch das ist in «Infinite» nur halb gelungen: Die Teile greifen nicht so richtig ineinander und der Spannungsbogen bekommt immer mal wieder eine Delle ab.

Kein Vergleich mit «Ready Player One»

Es fallen einem ständig Geschichten ein, wo dieses und jenes besser gelöst war: Die Sache mit der Simulation hat bei «Ready Player One» (Nerdgasmus und Popkulturklimax) mehr Spass gemacht. Die Einsamkeit im All hat mir Gravity eindrücklicher vermittelt. Oder auch 2001, wo auch Hal den überzeugenderen Computerbösewicht abgegeben hat. Die Beziehung zu einer künstlichen Entität kennen wir aus Her.

Das schmälert den Spass und bringt einen zur Vermutung, das inzwischen jede gute Geschichte bereits mehrfach erzählt wurde. Da passt es ins Bild, dass selbst der Schiffscomputer Gal zugibt, dass sie sich für ihre Rolle in der Simulation von Scifi-Klassikern hat inspirieren lassen.

Ich hätte lieber eine klassische Weltraum-Abenteuergeschichte über die Eroberung neuer Planeten gelesen. Doch immerhin – und damit bin ich am Ende des Fazits angelangt und komme zurück zur Zusammenfassung des Plots, wo auch ein paar Spoiler unvermeidlich sind – hat Jeremy Robinson auch dafür Platz in seinem Buch gelassen. Denn nachdem die Schlacht gegen Toms Drohnen und eine bösartige Subroutine im Programm des Schiffscomputer geschlagen ist, entdecken Gal, William und Wils Kollegin, die ihm inzwischen zugeneigt ist, wie sie zu Kepler 452b gelangen. Dort hat sich die Menschheit tatsächlich niedergelassen und eine neue Zivilisation aufgebaut. Was allerdings auch keine reine Freude ist.

Kitsch zum Schluss

Der Schluss ist leider wahnsinnig kitschig. William erfährt, dass the great escape entgegen seiner festen Überzeugung stattgefunden hat. Gal hat ihn getäuscht, und zwar aus gutem Grund: Denn nur wenn er seine Eskapade für echt halten würde, dann würde sie ihm auch Spass bereiten. Die lange Zeit der Simulation hat der Schiffsroboter gut genutzt und einen fast perfekten Androidenkörper für sich selbst gebaut. William sieht ein, dass er diese Androidin lieben kann und lieben möchte – und dass die Leidenschaft, die er für seine Kollegin empfunden hat, eigentlich auf Gal gemünzt ist. Happy End.

Fussnoten

1) In Deutsch scheint es das Buch nicht zu geben. Falls doch, bin ich froh um einen Hinweis in den Kommentaren.

2 Kommentare zu «Worum geht es hier eigentlich?»

  1. Tolle Kritik, Chef! Ich habe das Buch zwar nicht gelesen, sondern in meiner Faulheit ausnahmsweise mal als Hörbuch genossen, aber grundsätzlich kann dir da in vielen Punkten nur zustimmen. Die Problematik mit den Versatzstücken hat mir ebenfalls den Lesespaß geraubt… Ein guter Schinken, den ich dir hingegen wärmstens ans Herz legen kann ist “Paradox” (gibt inzwischen mehrere Bände) von Phillip Peterson. Da schlug mein SciFi-Herz jedenfalls deutlich höher als bei diesem Buch. Anyways – ganz schlecht würde ich es jetzt auch nicht bewerten. Aber es gab bessere Bücher und wird bessere geben.

Kommentar verfassen