Das Nerdinnen-Matriarchat

«Spell or High Water» («Auf Zauber komm raus») ist der zweite Teil in der «Wizard 2.0»-Reihe von Scott Meyer. In der gibt es eine matriarchale Gesellschaft, die von einer Doppelspitze regiert wird, die seltsamerweise aus der gleichen Frau, einmal in Jung und einmal in Alt besteht.

Erst im Sommer habe ich «Off to be the wizard» gelesen, besprochen und im Radio diskutiert, da reicht der Autor auch schon das Nachfolgewerk nach. Scott Meyer ist offensichtlich ein tifiger Schreiber. Er spinnt in Spell or High Water¹ (Deutsch: Auf Zauber komm raus) das Abenteuer von Martin, Philip, Gwen und Jimmy weiter.

Nerds im Mittelalter

Die Ausgangslage nach dem ersten Teil ist die: Im 12. Jahrhundert bildet sich im mittelalterlichen England bei den Kreidefelsen von Dover eine kleine Gemeinschaft von Computerfreaks, die aus der Gegenwart geflüchtet sind. Sie alle haben auf verschiedenen Servern eine geheimnisvolle Datei gefunden, die offensichtlich eine direkte Manipulation der Realität erlaubt. Wenn man in dieser Datei den eigenen Eintrag aufsucht und dort gewisse Parameter ändert, dann verändert sich damit augenblicklich das eigene Sein. So stattet man sich mit Unsterblichkeit aus, versorgt sich mit übernatürlichen Kräften und beschafft sich womöglich auch einen attraktiveren Kontostand.

Natürlich fällt man damit früher oder später auf. Bevor man sich unangenehmen Fragen ausgesetzt sieht, verändert man seine Raum-Zeit-Koordinaten in der Datei – und landet dann eben in der Vergangenheit. Dass ausgerechnet England so populär ist, liegt am Buch «The Best Years to Live in Medieval England» eines Autors namens Gilbert Cox. Dort lässt es sich als Nerd bestens als Zauberer leben. Die Zaubertricks werden als Makros über eine Shell ausgeführt, die die notwendigen Manipulationen an jener geheimnisvollen Datei vornimmt.

Nachdem im ersten Teil der Geschichte der grössenwahnsinnige Zauberer Jimmy alias James Sadler zur Strecke gebracht wurde, der ahnungslose englische Landbewohner in Hobbits und Orks umbauen wollte, verschlägt es Martin und Philip nun nach Atlantis. Dorthin sind die meisten Frauen mit Zugang zu der geheimnisvollen Datei gezogen.

Sie haben eine matriarchale Gesellschaft aufgebaut, wo ihnen keine Männer reinreden – wo die Männer aber immerhin als attraktive Bedienstete erlaubt sind. Die Frauen sind, was die Nutzung der Shell angeht, deutlich einfallsreicher als die Männer. Britt, die (doppelt vorhandene) Übermutter der Gemeinschaft, hatte die unschlagbare Idee, die gestalterischen Möglichkeiten der Shell auf molekularer Ebene anzuwenden. Sie erschuf auf diese Weise draussen im Meer vor Südamerika eine Stadt aus Kristall und gehärtetem Glas.

Britt die Jüngere, Britt die Ältere

Da Nerds häufig zur Ungeduld neigen und auch Britt keine Ausnahme von dieser Regel darstellt, wollte sie nicht auf die Vollendung von Atlantis warten. Das musste sie auch nicht: Sie hat sich entschlossen, irgendwann in der Zukunft als älteres Selbst zurück in die weitere Vergangenheit zu reisen und mit dem Bau von Atlantis zu beginnen.

Das hatte in der jüngeren Vergangenheit² zur Folge, dass Atlantis quasi aus dem Nichts auftauchte. Und es hatte den Nebeneffekt, dass Britt in der Gegenwart doppelt vorhanden ist. Einmal als sich selbst und einmal als älteres Selbst, das die Stadt aufgebaut und bis in die Gegenwart gelebt hat. Denn eben: Mit dem Shellzugriff wird das Sterben als Option ausgeschaltet und das Altern angehalten. Die beiden Britts verstehen sich übrigens (und das ist eine wirklich gelungene Wendung) nicht sehr gut – und sie kriegen auch Gelegenheit zur reziproken Eifersucht.

Dieses Verwirrspiel mit Raum und Zeit machen den Charme des Buchs aus. Scott Meyer bringt es zum Glück fertig, und seine Helden locker entlang dieser temporalen Verquickungen zu geleiten³. Auch das zweite Buch ist ein humorvoller Stoff, das mehr von den Figuren als von technischen bzw. magischen Exzessen lebt.

Leichtfüssige Unterhaltung ist wichtiger als atemlose Spannung – was auch deswegen sinnvoll ist, weil die Unsterblichkeit der Hauptfiguren es schwierig macht, überhaupt echte Gefahrenmomente aufzubauen. Immerhin, Scott Meyer hat sich den Kniff einfallen lassen, dass die Hauptfiguren durchaus ersticken können. Das heisst: Wenn Philip sich ohne seinen Zauberstab, der den Zugang zur Shell sicherstellt, in einem kristallenen Unterwassergefährt die Tiefsee erkundet und jemand durch einen bösen Zauber dieses Gefährt implodieren lässt – dann herrscht die für Abenteuerbücher so wichtige tödliche Bedrohung. (Es ist entsprechend kein Wunder, dass im Buch genau das passiert.)

Shell-Tricks (Achtung Spoiler!)

Die Geschichte geht so: Philip und Martin werden von Gwen nach Atlantis eingeladen, wo sie zusammen mit Magiern aus allen Welten und Zeiten einen Kongress abhalten. Es geht darum, die Verhaltensregeln für die Zauberer zu verfeinern. Diese Konferenz wird aber bald durch Mordanschläge auf Britt die Jüngere überschattet. Irgendjemand trachtet ihr nach dem Leben und lässt kristallene Statuen auf sie stürzen, schiesst Lenk-Pfeile auf sie ab und versucht, sie zusammen mit Philip in der Tiefsee zu ertränken.

Britt die Ältere, die Bescheid wissen müsste, hüllt sich in Schweigen. Und nicht nur das: Im Jahr 2014 hat es der grössenwahnsinnige Zauberer Jimmy geschafft, die Shell-Routinen auszutricksen, die ihn von jeglichen elektronischen Geräten, und damit auch von Computern und der Shell fernhalten – das war nämlich die Strafe dafür, dass er seine Zauberkräfte missbraucht und im grossen Showdown von «Off to be the wizard» versucht hat, Martin, Philip und die anderen friedlichen Zauberer auszurotten.

Natürlich gibt es am Schluss ein Happy-End. «Spell or High Water» ist eine gelungene Fortsetzung, in der Hörbuchfassung wiederum toll gelesen von Luke Daniels. Der erste Teil ist, was die Figuren und ihr Zusammenspiel angeht, runder und mit mehr Schmiss und Humor erzählt, was meinem Lesevergnügen aber nur wenig Abbruch getan hat.

Fussnoten

1) Eine Anspielung an die populäre englische Phrase «Come hell or high water», die laut Wikipedia sogar als Klausel in Verträgen zu finden ist und die auch Stephen King gern benutzt.

2) Diese Gegenwart liegt allerdings noch weiter in der Vergangenheit als die mittelalterliche Gegenwart der männlichen Zauberergemeinschaft in England. Aber solche Effekte sind unvermeidlich, wenn Raum und Zeit plötzlich zu einer beliebig veränderlichen Variable werden.

3) Als wichtiger Trick hat sich Scott Meyer den Umstand einfallen lassen, dass sämtliche Veränderungen der Vergangenheit die ursprüngliche Gegenwart, also das Jahr 2014 nicht tangieren. Die Shell scheint irgendwann vor dem Übertritt in die Gegenwart einen «Reset» durchzuführen. So vermeidet Meyer all die Paradoxen, die sonst unweigerlich auftreten würden. Er ermöglicht es seinen Figuren, in der Vergangenheit nach Lust und Laune zu schalten und walten, ohne die Gegenwart und ihre eigene Existenz zu gefährden. Und er legt den Stein für eine weitere Fortsetzung, in der diese «Reset» zum Thema werden könnte.

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