In zwei Anläufen zum traurig-schönen Happy End

«Insomnia» («Schlaflos») von Stephen King: Eine schöne und melancholische Geschichte, die viel Zeit braucht, um sich zu entfalten.

Ich hatte mir vorgenommen, meinen Durchsatz an King-Büchern zurückzufahren. Während den Ferien in Schweden bin ich diesem Vorsatz untreu geworden. Die Gelegenheit war aber auch zu günstig. Ich war Mitte der 90er-Jahre auf einer ausgiebigen Interrail-Reise durch Skandinavien, und ich hatte damals Insomnia (Deutsch: Schlaflos) von Stephen King dabei.

Ich habe das Buch damals nicht fertig gelesen. Dieses Versäumnis wollte ich nun wettmachen. Ich hatte die leise Vermutung, dass eine Verbindung zwischen den Erinnerungen ans Buch und den Erinnerungen an die damalige Reise entstehen würde – und die sich vielleicht gegenseitig befeuern würden.

Wenn einer in Maine plötzlich «Farben» sieht… (Bild: Jody Roberts/Flickr.com)

Das war leider nicht der Fall. Es sind tatsächlich nicht sehr viele Erinnerungen aufgetaucht. Weder an die Reise, noch ans Buch. Das liegt daran, dass mein Reisemodus damals ein ganz anderer war. Interrail – da hat man Monate Zeit, durch die Gegend zu tingeln. Ich war damals teils mit einer Freundin, teils allein unterwegs. Da gibt es viele Bekanntschaften, und man kann sich und seine Gedanken treiben lassen. Eine «erwachsene» Ferienreise ist hingegen zeitlich klar begrenzt (zehn Tage hatten wir) und entsprechend auch viel straffer geplant. Da mögen die Städte und Sehenswürdigkeiten dann die gleichen sein wie vor zwanzig Jahren – die Umstände und das Freiheitsgefühl sind es nicht.

Nichts fürs Alter Ego von damals

Mir ist auch klar geworden, weswegen ich das Buch damals nicht beendet habe. Ralph Roberts, der Protagonist, ist ein verwitweter Siebzigjähriger. Das ist nicht die optimale Identifikationsfigur für mein Alter Ego von damals. Das heisst nun nicht, dass ich mich heute wie ein Senior fühle. Aber ich bin deutlich offener für diese Art Held. Und ein sympathischer Held ist Ralph allemal. Auch die Erzählweise war mir damals – daran erinnere ich mich noch – viel zu schleppend und zu ausufernd. Heute habe ich genau das schätzen gelernt: Der Detailreichtum der Kingschen Geschichten braucht Zeit, viel Zeit, sich zu entfalten.

Er ist es, der es einem so einfach macht, sich mit den Figuren anzufreunden und ihre inneren Welten zu verstehen. Gerade bei «Insomnia». Diese Geschichte spielt sich über zwei Drittel gewissermassen im Kopf des schlaflosen Ralph Roberts ab. Man hat ausgiebig Gelegenheit, in die Hauptfigur hineinzuschlüpfen – ihr zunehmendes Leiden mit den immer kürzer werdenden Nächten und ihre intensiver und irrealer werdenden Sinneseindrücken mitzuerleben. Und wie durch Trance die seltsamen Ereignisse in Derry wahrzunehmen: Ed Deepneau, seine Frau und Tochter und die Feministin Susan Day, die die Stadt in Maine in die Lager der Abtreibungsgegner und der -befürworter spaltet. Diese Ereignisse scheinen Ralph nicht viel anzugehen. Er hat nach dem Tod seiner Frau und mit seiner Schlaflosigkeit zu kämpfen – und er merkt darum erst spät, dass beide Dinge (natürlich!) zusammenhängen.

Ich habe mich häufig gefragt, warum es keine einzig gute Verfilmung von Stephen-King-Büchern gibt – abgesehen von «The Shining», wo Stanley Kubrick die Einsicht hatte, die Grundidee mit filmischen Mitteln neu zu erzählen. «Insomnia» liefert auf diese Frage eine einleuchtende Antwort. Das Buch ist unverfilmbar¹. Einerseits lässt sich in den zwei Stunden eines Kinofilms nicht die Atmosphäre aufbauen, die ein fast 26-stündiges, von Eli Wallach hervorragend gelesenes Hörbuch aufbaut.

ilme wollen heute jegliche Längen vermeiden, um den Zuschauer nicht mal im Ansatz zu langweilen. Dieses Konzept steht einem King diametral gegenüber – nicht, dass der die Leute langweilen würde. Im Gegenteil. Aber er hat keine Skrupel, wenn erst einmal zehn Stunden (anscheinend) nichts passiert. Das grösste Problem bei der Verfilmung ist jedoch, dass man bei King die Leute nicht von aussen sieht. Sondern von innen. Das lässt sich auf der Leinwand nicht zeigen. Und der Plot hat diverse Elemente, die in einer typisch hollywoodschen Verfilmung grosses Potenzial haben, lächerlich zu wirken. Ich erinnere nur an den scharlachroten König, der mit Erinnerungsfetzen an Ralphs Mutter zu einem Mischwesen wird, das nach Königsfisch riecht…

Ausserhalb des unerbittlichen Handlungssogs

Die Literatur hat, anders als der Film, die Macht, einem Figuren wirklich nahe zu bringen. Man lernt Ralph Roberts Denkweise und seine Biografie kennen und kommt auch der Heldin des Buches nahe, Lois Chasse. Man erlebt die Figuren ausserhalb des unerbittlichen Handlungssogs, der bei einem Film die Geschehnisse ständig vorantreibt. Wie ich aus genügend «Making of»-Kommentaren weiss, haben Regisseure und Schnittmeister die Gewohnheit, Szenen gnadenlos zu entfernen, wenn sie die Geschichte nicht voranbringen. Auf diese Weise liesse sich ein King-Buch um 70 bis 90 Prozent verkürzen. «The Stand» lässt sich auch in der um 400 Seiten gekürzten Originalversion geniessen – aber King schreibt im Vorwort der 1227 Seiten langen Originalversion, warum die Würze bei manchen Geschichten eben nicht in der Kürze liegt.

Es ist erstaunlich, wie stark sich ein Buch in zwanzig Jahren verändert – selbst wenn die Buchstaben darin die gleichen geblieben sein mögen. Ich habe «Insomnia» bei der zweiten Begegnung sehr gern fertiggelesen, beim traurig-schönen Ende ein Tränchen verdrückt und die für King so typischen Dialogmotive auch in diesem Buch genossen – von It’s a long walk back to Eden, sweetheart, so don’t sweat the small stuff und hunky dory über Three six nine, the goose drank wine, Come hell or high water bis hin zum Dobyns-Zitat Each thing I do I rush through so I can do something else. Seine sprachlichen Referenzen sitzen.

Fussnote

1) Eine Verfilmung gibt es bis heute zum Glück nicht. Ein IMDB-User hat sich aber die Mühe gemacht, sich eine Besetzung für «Insomnia» auszudenken. Sie ist verblüffend und überzeugend, finde ich.

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